Die Freiheit der Sinne
Es war ein regnerischer Nachmittag, die Fenster beschlagen, und drinnen im Wohnzimmer saß ein kleines Kind auf dem Teppich, ein Bild in der Hand, das es gemalt hatte. „Das ist unser Haus“, sagte es leise, „aber ich hab das Fenster rot gemacht, weil da immer geschrien wird.“ Die Betreuerin nickte nur und sagte nichts. In diesem kleinen Satz lag eine ganze Welt. Eine Welt, die viele nicht hören wollen. Eine Welt, die man diesem Kind schon so oft ausgeredet hatte.
Pflegekinder kommen oft aus Wirklichkeiten, in denen nicht sein darf, was ist. Sie haben gelernt zu zweifeln, nicht an den anderen, sondern an sich selbst. Wenn sie sagen, sie hätten Angst gehabt – wird ihnen gesagt, das stimme nicht. Wenn sie spüren, dass etwas nicht richtig ist – wird ihnen erklärt, sie hätten sich getäuscht. Wenn sie hören, wie die Eltern streiten – wird es abgetan: „Du hast das falsch verstanden.“
Was bleibt, ist Verunsicherung. Nicht nur über die Welt – sondern über die eigene Wahrnehmung. Über das eigene Erleben. Und genau da liegt der Schlüssel: Kinder brauchen Freiheit. Nicht nur zum Spielen oder zum Lachen. Sie brauchen die Freiheit, zu sehen, was sie sehen. Zu hören, was sie hören. Zu fühlen, was sie fühlen. Und das aussprechen zu dürfen, ohne dass ihnen ihre Realität genommen wird.
In der Arbeit mit Pflegekindern ist es eine unserer tiefsten Aufgaben, diesen Raum wiederherzustellen. Es bedeutet nicht, dass wir jede Aussage ungeprüft hinnehmen müssen, aber es bedeutet, dass wir sie ernst nehmen. Dass wir ihre Wahrnehmung achten – nicht mit einem „Das war sicher anders“, sondern mit einem „Erzähl mir mehr“. Dass wir ihre Angst nicht wegwischen, sondern sie in den Arm nehmen und sagen: „Das darf sich für dich schlimm anfühlen.“
Wenn ein Kind die Erlaubnis bekommt, zu hören, was es gehört hat, zu sehen, was es gesehen hat, und zu spüren, was es gespürt hat – dann beginnt langsam etwas zu heilen. Dann entsteht ein neues Vertrauen, nicht nur in uns als Bezugspersonen, sondern vor allem in sich selbst. In die eigenen Antennen. In das eigene Empfinden. Und genau das ist der erste Schritt zu einem gesunden Selbstbild.
Denn jedes Mal, wenn wir einem Kind sagen, dass es sich irrt, obwohl es genau weiß, was es erlebt hat, reißen wir ein Stück dieser inneren Sicherheit ein. Und jedes Mal, wenn wir es darin bestätigen, dass es Dinge wahrnehmen darf, wie sie sich ihm zeigen – stärken wir sein Fundament.
Es sind keine großen Taten, die dies ermöglichen. Es ist das stille Zuhören. Das ernst gemeinte „Ich glaub dir“. Die stille Erlaubnis, Dinge auszusprechen, die weh tun oder unbequem sind. Und es ist unsere Bereitschaft, die Wahrheit eines Kindes stehen zu lassen – auch wenn sie schwer auszuhalten ist.
Die fünf Freiheiten – zu fühlen, zu sehen, zu hören, zu spüren, zu sagen – sie sind keine pädagogischen Methoden, sie sind ein Menschenrecht. Und sie sind das Fundament für jedes Kind, das wachsen und heil werden soll.